Dieses ist das Transscript eines kleinen Heftes, das ich im Nachlass meines Vaters fand - genaugenommen habe ich es schon vor seinem Tod bekommen, aber ich habe es "links liegengelassen". Die Thematik war nicht so entsetzlich interessant, insbesondere, als ich noch jünger war.

Jetzt aber, wo mein Vater nicht mehr erreichbar und ansprechbar ist, sind alle Informationen über ihn wichtig, um ihn, im Nachherein, mehr kennenzulernen. Was zum Beispiel hat ihm dieses Stück Literatur bedeutet? Wie ist er dadurch geformt worden? Ausser, dass er mir dieses Heft gegeben hat, hat er sich darüber nie geäussert. Und als ich es selber las, war mir auch unklar, was der Text überhaupt bedeuten soll. Die wirren, pupertären Gedanken einer Teenagerin? Warum das tragische Ende? Wie leicht hätte sich das verhindern lassen! Und was hat meinen Vater daran interessiert?

Es kann übrigens sein, dass er als Lehrer diese Geschichte im Deutschunterricht verwendet hat. Es könnten heute noch sich einige ehemalige Schüler von ihm daran erinnern.

Ich tippe das Büchlein natürlich auch aus dem üblichen Grunde ab: Training im Zehnfingerblondschreiben. Das musste ich lernen, nachdem ich Anfang 2009, im zarten Alter von 57, meine erste Glaskörperabhebung bekam - inzwischen ist das andere Auge auch betroffen - und ich erkannte, dass ich, um weitere Schäden zu verhindern und der Gefahr einer Netzhautablösung zuvorzukommen, unbedingt davon Abstand nehmen muss, weiter das Adler-Suchsystem auf der Tastatur zu verwenden. Um diese Fähigkeit zu behalten - sie zu entwickeln hatte von Anfang 2009 bis Oktober 2010 gedauert - muss ich immer wieder viele Texte schreiben - und wenn das im beruflichen und privaten Alltag nicht gelingt, dann muss ich eben ab und zu was abschreiben. Jetzt ist "Jescha" dran. Gelegenheit, den Text genau kennenzulernen, und Gelegenheit, herauszufinden, was dieser Text eigentlich aussagen soll.

Es sollte restlos klar sein: Ich verdiene mit der Veröffentlichung dieses Textes keinen Cent. Ich stelle dem Autor - wahrscheinlich posthum - ein Forum zur Verfügung, das er auf keine andere Weise mehr erhalten könnte. Andere verlangen Geld dafür. Wenn mir jemand Ärger macht, dann werde ich meine Arbeitsleistung in Rechnung stellen - und ich bin nicht billig.

Abgesehen davon möchte ich, dass der Hauch dieser etwas anderen Welt, die in dem Text beschrieben ist, noch einmal Gelegenheit hat, etwas durch diese Welt zu streifen. Und falls diese Jescha, die im Text beschrieben ist, in der wirklichen Welt, der Erfahrungswelt des Autors, eine Entsprechung hatte - irgendwoher kriegen Autoren ja ihre Inspirationen - dann ist dieses eine Art Nachruf.


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DEIN LESEHEFT

Unterhaltende, heitere und besinnliche Erzählungen

Schriftleitung: Peter Hoffmann

16 Seiten Umfang, mit Textillustrationen und zweifarbigem Umschlag.
Monatlich erscheinen vier Hefte.
Einzelheft DM -.25;
Abonnement-Bezug: vierteljährlich DM 3.60 einschl. Zustellgebühr.


        Die letzten Hefte:

    85. Werner Bergengruen,     Die Zigeuner und das Wiesel
    86. Hans Pille,             Die vier Freunde
    87. Gerhard Ringeling,      Zwei auf einem Floss
    88. Harald Zusanek,         Coucou
    89. Erich Landgrebe,        Die falsche Prinzessin
    90. Karla Höcker,           Die Begegnung
    91. Herbert A. Löhlein,     Der Teufel im Planwagen
    92. Ernst Joseph Görlich,   Mein Herr der Beg
    93. Egbert Kieser,          Jescha
    94. Albert Bosper,          Der Onkel und die Bande
    95. Hansjörg Schmitthenner, Wildgewordene Lokomotive
                                rast durch Milwaukee
    96. Siegfried Lenz,         Der einsame Jäger

        Die nächsten Hefte:

    97. Wolfgang Altendorf,     Fahrerflucht
    98. Joachim W. Reifenrath,  Die Nacht von Les Montils
    99. Joe Sinclair,           Ich habe dich gewählt
   100. Hagen Thürnau,          Das aufgeschobene Leben

Heft 93.
Illustriert von Franz Richter-Johnsen
Rufer-Verlag Gütersloh 1955
Gesamtherstellung in der Hessischen Druck- und Verlagsanstalt Gmbh., Kassel
Alle Rechte bleiben vorbehalten
In allen guten Buchhandlungen zu erhalten

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Jescha

Egbert Kieser

"Nun spring schon, du Feigling", die Stimme des Knaben klang zornig, "es tut doch nicht weh." Ärgerlich beugte er sich vor und stütze die Hände auf sein Knie.

Zögernd stand das Mädchen in der LadeÖffnung der Tenne und blickte ängstlich auf den Strohaufen hinab. Dann glitt ihr Blick von dem gelben Fleck unter ihr ab und blieb an dem dunklen Balken haften, der sie noch von der Tiefe trennte. Ein Schwindelgefühl packte sie, und erschrocken tratt sie einen kleinen Schritt zurück. "Jescha, wenn du jetzt nicht springst, werfe ich dich hinunter." Langsam bog sich die schmächtige Gestalt der Vierzehnjährigen nach vorn; das ebenmässige Gesichtchen war gefroren in Angst, und die grossen Augen füllten sich mit Tränen. Mit einer verlorenen Gebärde strich sie über den weissen, luftigen Rock, und schon, bevor sie den Schritt ins Freie trat, sah sie nichts mehr durch den dichten Schleier der Tränen.

Der Wind schlug ihr im Fallen das Röckchen hoch, und wie eine leblose Puppe fiel sie ins knisternde Stroh. Regungslos blieb sie sitzen: über die blassen Wangen zogen zwei feuchte Bahnen und perlten in ihren Schoss. Aber sie achtete nicht darauf, auch nicht auf die harten Halme, die ihr die nackten Beine zerstachen. Ihr kleines Herz schwebte noch immer zwischen Himmel und Erde und schlug mit langsamen Schlägen gegen die Angst. Sie erschrak, als dicht neben ihr der Bruder mit einem freudigen Schrei ins Stroh fiel. Es war viel Triumph und wenig Besorgnis in seiner Stimme, als er sie ansah und sagte: "Pah, siehst du, es hat nicht weh getan. Hat es weh getan?" Wie konnte er wissen, dass ihre Angst viel grösser war als die, welche man vor einem Schmerz empfindet. Auch Jescha wusste nicht, warum sie litt, und blickte nur verstört auf ihren Bruder. Dann stand sie ohne Antwort auf, rutschte unbeholfen den Strohberg hinunter, hörte nicht mehr, wie der Knabe sich laut und verwundert fragte: "Was die bloss wieder hat", und lief aus der Scheune hinaus, am Herrenhaus vorbei, den Park hinunter.

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Es war ein alter Park, der wie schützend seine Dämmerung über die Eile der zarten, weissen Gestalt breitete. Er war verschwiegen und verzaubert: eiserne Gitter und hohe Mauern, die sich durch dichtverwachsenes Gebüsch und hinter hohen Bäumen hinzogen, vergessene, verrostete Pforten und morsche, hölzerne Brücken über Mulden, die statt des Wassers trockenes Laub und Moder enthielten, worin der Schrei der Vögel und das Rascheln der Eichhörnchen versank. Die pflegende Hand der Menschen war kaum noch spürbar; nur hin und wieder fand sich am Rande der verwachsenen Wege eine bemooste, halbzerfallene Steinbank, deren Sinn Jescha nie verstanden hatte, denn ihre junge Phantasie reichte nicht zurück bis in jene Zeiten, da die Wege noch breit und glatt waren, dass man mit Reifröcken einhergehen konnte und die Bänke zum Schäferstündchen benutzte.

Doch selbst wenn sie um die tiefe Ruhe des Parkes, der ganz allmählich sich in Natur zurückverwandelte, gewusst hätte, sie hätte jetzt nur Worte zum Fragen und zum Bitten, nicht aber Trost gefunden. Wie ein aufgescheuchtes Wild hastete sie umher und wusste nicht, dass sie sich nur verbergen wollte. Erst als sie dann ermüdete, kam Ruhe über sie. Die Dinge begannen wieder ihren Platz einzunehmen: sie sah die Blumen und hörte die Vögel und achtete auf ihren Weg. Ein Weilchen noch ging sie ziellos voran und lenkte schliesslich ihre Schritte hinunter zu den Teichen; vielleicht, dass sie dort den Vater traf, denn er war oft am Wasser und sah nach den Fischen, an deren Zucht ihm fast ebensoviel gelegen war wie an der Jagd.

Langsam ging Jescha die Wiese hinab, doch sosehr sie auch um sich spähte: die Ufer waren leer. Sie fand das Boor vertäut am Steg, und einige Enten stiegen bei ihrem Nahen flatternd aus dem Schilf. Die Schwäne waren heute am jenseitigen Ufer. An einer offenen Stelle glitt Jescha ins Gras und sah hinüber zu den grossen Vögeln. Sie mochte sie lieber als alle anderen Tiere, wenngleich es Tage gab, an denen sie sich vor ihnen fürchtete. Ein Schwan besonders war es, der ihr Gefallen erregte: ein grosses, schneeweisses Männchen, welches sich immer etwas abseits hielt. Er war der stolzeste von allen; und warf sie Brot ins Wasser, kam er nur, wenn er der nächste war und alles allein haben konnte, sonst drehte er sich - wie ihr schien - verächtlich ab und überliess den anderen das Futter. Allmählich war es wie zu einem Einverständnis gekommen, und im stillen nannte sie ihn ihren Freund. Einen Namen freilich konnte sie für ihn nicht finden - kannte sie doch so wenig Menschen, und keinem davon schien er zu ähneln. Es war gut, dass die Schwäne heute am anderen Ufer waren, so brauchte sie sich nicht zu schämen, dass sie nichts bei sich hatte.

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Sie sah von weitem, wie ihr Freund die mächtigen Flügel spreizte und sich mit dem schmalen Schnabel das dichte Gefieder lockerte. Es müsste schön sein, ihn einmal zu streichenln, dachte sie - ob er es sich gefallen liesse? Es sah nicht so aus. Aber das nächste Mal, wenn sie wieder Brot bei sich hätte, würde sie es einmal versuchen - und sie freute sich darauf.

Als hätte sie mit diesem Gedanken eine lange Unterhaltung beendet, stand sie auf und stapfte durch das verfilzte Gras wieder den hohen Bäumen zu. Man würde sie vielleicht suchen, weil sie so kopflos davongerannt war - ganz tief in ihrer kleinen Brust, dort, wo die Gedanken nicht hinkamen, wünschte sie es sogar -, aber sie fürchtete die Verachtung des Bruders und den leisen Spott des Vaters - natürlich würde Wolfram es ihm erzählt haben. Warum waren die Menschen nur nicht wie die Schwäne, es wäre alles viel schöner. Sie konnte es sich aber nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Papa als Schwan auf dem Wasser dahergeschwommen käme und nach ihren Krumen schnappte. Ob Vater und ihr weisser Freund sich als Schwäne vertragen würden? Jescha lächelte über den dummen Gedanken vor sich hin, und zum ersten Male seit dem Sprung von der Tenne bekamen ihre Augen wieder einen warmen Glanz.

***

Trocken knirschte der Kies unter ihren Füssen, als sie sich dem Hause näherte. Drüben aus dem Fenster des Musikzimmers hörte sie Mutters Klavierspiel. Leise trat sie näher und blieb dicht unter dem Fenster auf dem Rasen stehen.Leichthin flossen die Töne, wurden schwer und versanken ganz, kamen wieder und schwebten wie tanzende Schmetterlinge um die schmale Gestalt des Mädchens, das, den Kopf ganz leicht zur Seite geneigt, im Hören aufging.

Jescha liebte diese Musik, aber sie liebte es nur als unbemerkter Zaungast. Drinnen im Zimmer, im breiten Fauteuil, hätte sie nicht zuhören mögen, denn sie wusste, dass ihre Mutter eine Fremde war, wenn sie Klavier spielte oder sich von den Poeten aus der Stadt, die sie so oft zu sich lud, Gedichte vorlesen liess. Längst auch ahnte ihr zarter, kindlicher Instinkt, dass der Vater unter dieser Fremdheit litt; sie hasste deshalb die Mutter. Trotzdem blieb sie unter dem Fenster stehen und lauschte. Ihre stille, kleine Sehnsucht verlor sich in den Tönen, und für einen kurzen Moment war ihr, als sei dies ihre eigene Musik.

Plötzlich verspürte sie ein Verlangen, den Vater zu sehen, sich an sein Knie zu lehnen und darauf zu warten, dass er ihr über

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das Haar streiche. Auf den Zehenspitzen wandte sie sich ab und ging ganz leise, als wolle sie sich aus der Welt stehlen, über den Rasen ins Haus. Aus Furcht, jemandem zu begegnen, beeilte sie sich, durch die Halle zu kommen. Vorsichtig öffnete sie die Tür zur Bibliothek und schob den schmalen Kopf durch den Spalt. Ihr Herz begann so stark zu schlagen, dass sie es im Halse klopfen spürte, und ihr Gesicht rötete sich vor Erregung, als sie den Rücken des Vaters am Schreibtisch sah. Leise trat sie ein und wollte behutsam die Tür hinter sich schliessen, als diese ihr aus der Hand glitt und mit einem leichten Schlag ins Schloss fiel. Der Vater wandte sich um und sah sie fragend an. Jescha vermochte nicht weiterzugehen - eine unsagbare Verlegenheit befiel sie, als sei sie bei dem geheimsten aller Gedanken ertappt worden. "Papa", setzte sie stockend an, "ich wollte - ich dachte -" und nach einem neuen Anlauf: "Würdest du böse sein, wenn ich mich ganz still, - ich will dich auch nicht stören - nur da sitzen", und sie deutete mit ihren dünnen Ärmchen auf seine Füsse. Verständnislos blickte Graf Lasky auf seine Tochter: "Du weisst, dass ihr mich nicht stören sollt, wenn ich arbeite. Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dir zu beschäftigen - ein andermal. Geh und spiel mit Wolfram oder tue sonst irgend etwas", antwortete er halb ärgerlich, halb begütigend.

Da wurde es ganz kalt in ihr, wie wenn im Frühling Schnee auf eine Blüte fällt, und so leer, wie wenn der Herbst die Blätter von den Bäumen löst. Und abermals begannen Tränen die grossen Augen zu füllen. Bewegungslos blieb Jescha in der Nähe der Türe stehen und blickte vor sich hin, als hätte sie alles um sich herum vergessen. Als der Graf bemerkte, dass sich die Tochter noch immer im Zimmer befand, wandte er sich wieder um. Ärgerlich wollte er sie zurechtweisen, da bemerkte er ihre Tränen, und verwundert rief er sie zu sich. Zögernd folgte sie ihm. "Nun weine doch nicht. Sieh, ich habe wirklich keine Zeit." Mit seinem Taschentuch tupfte er ihr die Tränen von den Wangen. Unter einem trockenen Schluchzer, der ihre kleine Gestalt schüttelte, nickte sie so heftig, dass ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie war erleichtert und wusste nicht warum.

Um endlich Ruhe zu haben, versprach ihr der Vater eine gemeinsame Ausfahrt. Er ahnte nicht, was dieses Versprechen für das Kind bedeutete, und übersah das glückliche Leuchten, das unvermittelt in den dunklen, auf ihn gerichteten Augen erschien. Um so mehr verblüffte es ihn, als er plötzlich zwei feste, kindliche Lippen auf den seinen verspürte; doch noch ehe er etwas sagen konnte, war Jescha aus dem Zimmer geschlüpft. Graf Lasky schüttelte den Kopf: er verstand die Tochter so wenig wie seine

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Frau. Beide taten stets so völlig Unerwartetes, Unberechenbares, dass er den Überblick verlor und sich ratlos ihnen gegenüber fand. Stets hatte er den Eindruck, einer Herausforderung zu begegnen, deren Sinn er nicht verstand, einer Frage, die in einer fremden Sprache an ihn gerichtet wurde. Bei seiner Frau nahm er dieses Unerklärliche schon lange nicht mehr allzu ernst, ja, er konnte es nicht ernst nehmen. Doch dass die Tochter schon begann, sich ähnlich zu verhalten, besorgte ihn.

Seine Hochzeit war pompös gewesen, und es hatte ihn mit masslosem Stolz erfüllt, eine so schöne und kluge Frau über die Schwelle seines alten Besitzes tragen zu können. Diese Verbindung war ihm vollkommen erschienen, und damals hätte er sich nicht träumen lassen, dass seine Frau sich einmal so weit von ihm entfernen würde. Sie hatte ihm vorgelesen, vorgespielt und vorgeschwärmt, war so romantisch gewesen, wie es eigentlich nur ein Buch sein konnte - er hatte es als liebenswerte Marotte genommen und war darauf eingegangen, soweit er konnte. Graf Lasky betrachtete sich als einen rechtlich denkenden Edelmann: wie er seiner Jagd und den Herrenabenden frönte, so glaubte er, dass auch seine Frau ein Recht auf etwas haben müsse, wennschon sie die Jagd mit ihm nicht teilen mochte. Aber es blieb nicht bei dieser Art des getrennten Vergnügens, bei diesem Vertrag, wie er es bei sich nannte. Es kam vor, dass sie ihn bat, ihr zuzuhören, und er ihr folgte, um dann mit halbem Ohr ihr Spiel zu vernehmen. Sie würde dann plötzlich die Hände von den Tasten nehmen, zu ihm herüberkommen, ihm streichelnd den schönen Kopf an seine Schulter lehnen und flüstern: "Ich habe Sehnsucht nach dir." Was sollte er da tun? Sie hatte alles, was eine Frau begehren konnte: sie waren reich, gehörten zum ältesten Adel, hatten zwei reizende Kinder und lebten in schönsten Frieden - musste er da nicht sagen: "Unsinn"? Er meinte es anfangs auch nicht böse, sagte es, nicht um sie zu verletzen, sondern er wollte nur, dass der Vertrag eingehalten werde, wollte ihr nur sagen, dass er doch bei ihr sei, und wollte sie zugleich aus ihrer vermeintlichen Verstiegenheit reissen. Langsam aber wurde er bei solcherart Anlässen wirklich ungehalten. Er wusste sich dann keinen Rat, nahm vielmehr Zuflucht zum Zorn, polterte durch das Haus und tyrannisierte das Personal. Sie aber ging auf ihr Zimmer und weinte.

Wenngleich solche Szenen mit den Jahren seltener geworden waren, fühlte er doch, wie seine Frau, die er doch, wenn auch auf seine Art, liebte, ihm immer mehr entglitt. Aber er machte keine Anstrengungen, sie wiederzugewinnen, denn er glaubte die Schuld bei ihr zu wissen. Sollte seine Tochter nun nach ihrer Mutter arten? Wenn er dessen sicher war, wollte er ihr den Schwarmgeist beizeiten

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austreiben. Vielleicht sollte er sie des öfteren mit auf die Jagd nehmen, mit ihr ausreiten, sie überhaupt mehr in den Kreis nehmen, in dem er selber lebte. Es würde Widerstände geben, doch die wollte er schon brechen.

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu: aber sosehr er sich auch bemühte, er vermochte sich nicht mehr auf die leidigen Zahlen und Titel der Abrechnungen zu konzentrieren. Seine Gedanken waren schon wieder draussen zwischen den glattstämmigen Bäumen hinter den trächtigen Feldern. Lange hatte er den kapitalen Bock nicht mehr gesehen, der so unstet von Revier zu Revier zog und ihn immer wieder zum Narren gehalten hatte. Bis zur Schusszeit musste er ihn aufgespürt haben, und er beschloss, noch heute einen Beobachtungsplan zu entwerfen. Bevor er dies tat, wollte er jedoch noch nach den Fischen sehen; so ging er hinaus, sich die Gummistiefel anzuziehen. Dem Kutscher, der ihm bei solchen Gelegenheiten helfen musste, hiess er das Futter holen.

Bald waren die Männer unterwegs zu den Teichen. Der kleinere von ihnen trug einen blutgetränkten Sack, in dem sich die frischen Fleischreste für den Fischkasten befanden. Schweigend schritten sie durch den Park, und als sie bei den Teichen ankamen, erblickten die Jescha. Ihnen abgekehrt, im Bug des vertäuten Bootes sitzend, lockte sie die Schwäne mit Brot, von dem sie ab und an ein paar Krumen ins Wasser warf. Als sie die Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich erschrocken um, und beim Anblick des Vaters trat ein verlegenes Lächeln in ihr Gesicht. "Ich wollte die Schwäne füttern, Papa", sagte sie unsicher, als wolle sie sich für ihr Tun entschuldigen. "Ja, ja", antwortete der Vater ungeduldig, "nun komm heraus, wir wollen hinüber zum Fischkasten fahren." "Darf ich nicht mit, Papa?" "Nein", schlug er ihr die Bitte kurz ab. Jescha blickte zum Kutscher, doch von dort kam ihr keine Hilfe. So stieg sie gehorsam aus dem Boot und sah zu, wie der Kutscher den Vater zur Mitte des Teiches ruderte, wo der Futterkasten für die Fische auf vier grossen Pfählen dicht über dem Wasser angebracht war.

Verloren sass Jescha am Ufer und blickte traurig über den Teich. Ihre kleine Hand krampfte sich fest um das übriggebliebene Brot - nur hin und wieder fiel ein Brocken davon ins Gras. Die Schwäne trieben in weiter Entfernung, so dass man sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Der Vater war am Futterkasten beschäftigt: nicht einmal sah er zu ihr herüber. Sie wollte rufen und winken, aber es wurde nur ein tiefer Atemzug und eine matte, kreisende Bewegung der Hand. Dann stand sie auf und blickte über das Wasser.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich, und erschrocken fuhr sie herum: dicht hinter ihr stand der Sohn vom Nachbargut

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und lachte sie strahlend an: "Guten Tag, Jescha, habe ich dich erschreckt?" Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, als sie zurücklächelte und den Kopf schüttelte. Sie fühlte sich ertappt, ohne dass sie zu sagen gewusst hätte, weshalb - und in ihrer kindlichen Verlegenheit blieb sie stumm. "Kommst du mit, meine neue Koppel ansehen? Ist nicht weit: gleich an der Grenze." Jescha nickte; ihr war es so gleichgültig, was sie jetzt tat. Langsam ging sie neben ihm her. Stolz berichtete er, dass sein Vater ihm zwei Pferde geschenkt habe, die er nun auf der neuen Koppel halte, und dass die Mutter dagegen sei, weil er doch neulich mit der Henriette gestürzt wäre. Er war etwa siebzehn Jahre, und es machte ihm sichtlich Spass, der zarten Jescha zu imponieren. Jescha aber konnte nur langsam die Gedanken aus ihrer Verlorenheit zurückgewinnen und hörte kaum, was er sagte. Nach einer kleinen Weile fragte er sie plötzlich: "Was hast du denn da in der Hand?" Er musste noch einmal fragen, ehe sie ihn richtig verstand und gehorsam die immer noch geschlossenen Faust öffnete: Ein Klumpen

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Brot lag darin, in den die kleinen Finger längliche Mulden gepresst hatten. Jescha wurde über und über rot. "Wohl dein Reiseproviant?" fragte er spöttisch und war erstaunt, als er einen zornigen Blick erhielt, noch mehr aber war er verwundert, als Jescha sich ohne ein Wort von ihm wandte und den Weg zurücklief, den sie gekommen waren, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen oder verloren. Jescha lief so schnell sie konnte. Sie selbst vermeinte, sie eile sich, den Vater noch zu treffen, doch im Grunde suchte sie den Schoss der Mutter, in dem sie die Unrast ihres kleinen Herzens hätte bergen können. Ausser Atem kam sie am Teiche an: vom Vater war weit und breit nichts mehr zu sehen. Enttäuscht ging sie langsam zum Hause zurück.

***

Als der Abend fiel, lösten sich die Schatten in der Dämmerung, und für eine kurze Spanne wurden die Dinge schwerelos und trieben hinüber in die Nacht. Der Park verlosch im Schweigen - nur die hellen Gebäude des Gutes gaben noch ein fahles Licht. Hin und wieder schnitt ein gelber Lichtstrahl aus verhangenen Fenstern einen Spalt in die Nacht: im Herrenhaus bereitete man sich zum Abendessen vor.

Es war einer jener seltenen Abende, an denen man keine Gäste erwartete - nur die Gräfin hatte wieder einen jungen Dichter geladen, der schon am Nachmittag angekommen war, den aber noch keiner gesehen hatte. Es war fast immer das gleiche, wenn solcher Besuch kam: die Kinder blickten mit übertriebener Verachtung auf den Eindringling herab und mussten nur allzuoft zur Höflichkeit ermahnt werden, und auch der Graf selbst mied ihn mit Bedacht.

Verdriesslich standen sich der Knabe und das Mädchen hinter ihren Stühlen im getäfelten Speisezimmer gegenüber und warteten auf die Eltern. Es würde ein sehr schweigsames Mahl werden, die Kinder wussten das: die Worte würden plötzlich fallen und erschreckend laut sein, sie würden hohl klingen wie in einem grossen Saal und lange im Raume schwingen, bis eine kurze Antwort käme. Noch während die Bediensteten die letzten Handgriffe verrichteten, traten die Erwachsenen ein. Man setzte sich sogleich zu Tisch, der Vater machte noch einige belanglose Bemerkungen über das Essen, und dann trat Schweigen ein. Jescha, die neben dem Fremden sass, blickte hin und wieder verstohlen von ihrem Teller auf, den Jüngling zu ihrer Rechten musternd. Er war recht klein - ein Zwerg fast gegen den grossen Vater - und hatte ein hässliches Gesicht. Auch war seine Kleidung längst nicht

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so elegant wie bei den Gästen des Vaters, aber er hatte schöne, traurige Augen, die er hin und wieder bewundernd auf die Gräfin richtete. Je öfter sie hinsah, desto besser gefielen Jescha diese Augen - und sie ärgerte sich darüber. Wie um Hilfe sandte sie einen Blick hinüber zum Bruder; der jedoch löffelte mit grimmigem Ernst seine Suppe und sah auch nicht für eine Sekunde auf.

Das Essen verlief schweigsam. Erst als der Kaffee serviert war und die Kinder hinter einer dampfenden Tasse Schokolade sassen, wandte sich der Vater plötzlich an den Gast: "Sie leben schon lange in M.?" Seine Stimme klang unfreundlich, als entledige er sich einer lästigen Pflicht. Der Jüngling schien offensichtlich auf eine Anrede gewartet zu haben, denn noch ehe Graf Lasky seine Frage ganz ausgesprochen hatte, antwortete er beflissen: "Drei Jahre, wenn ich die vorhergehenden kurzen Aufenthalte nicht rechne", wobei eine leichte Röte sein Gesicht überzog. Als Jescha die Verlegenheit des Fremden bemerkte, freute sie sich unbändig. Sie sah hinüber zum Vater, und in ihren Augen war Bewunderung und geheimes Einverständnis, Zärtlichkeit und die stumme Frage nach dem nächsten Sieg. Mit ihren wachen Sinnen spürte sie die Rivalität der beiden Männer, doch bezog sich diese Gegnerschaft nicht so sehr auf die Mutter wie auf sich selbst. Sie fühlte sich als Richterin über den Kampf der beiden und meinte, es gehe um ihre Gunst. Wenngleich in ihrem Herzen diese Gunst auch schon längst vergeben war, so wartete sie doch gespannt auf den nächsten Gang, und ohne dass sie es wollte oder wusste, sprang ein verliebter, herausfordernder Blick hinüber zum Vater. Eine zartek, frühreife Weiblichkeit keimte in ihrer Brust und machte sie zur unbewussten Nebenbuhlerin der Mutter.

Im Überschwange ihrer Phantasie sah sie blitzende Schwerter, und sie musste sich am Tisch halten, um nicht aufzuspringen, dem Vater die vermeintlichen Wunden behutsam zu waschen und ihn zu neuem Kampf zu stärken. Sie wurde ganz schwer vor Glück und hätte am liebsten geweint. So sehr war sie mit sich selbst beschäftigt, dass sie nun nicht einmal mehr hörte, was noch gesprochen wurde, nicht erfuhr, wie der Vater den Fremden kränkte und billige Siege erfocht, nicht sah, wie die Mutter dem Gatten mahnende, vorwurfsvolle Blicke zuwarf und auch nicht bemerkte, dass der Hass in Wolframs Augen einer leisen Verächtlichkeit gewichen war. Langsam wurden ihre Gedanken bilderlos, schienen sich aufzulösen und irgendwohin zu entschweben. Sie sah den Bruder an und die Mutter, die ihr gerade mit einer Handbewegung bedeutete, dass es Schlafenszeit sei. Noch ganz entrückt ging sie mit dem Bruder zur Lampenkammer, wo die Leuchter für die Nacht schon von einem Diener bereitet waren. Mit den brennenden

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Lampen in der Hand kamen die Geschwister zurück, den Eltern und dem Fremden eine gute Nacht zu wünschen.

Ohne ihn anzublicken, verabschiedete sich Jescha von dem Gaste sehr steif und förmlich und hatte es eilig, von ihm wegzukommen. Der Mutter gab sie nur einen flüchtigen Kuss, der - kaum erwidert - verflogen war, bevor noch ihre Lippen die Schläfe der Mutter berührt hatte. Erst als sie dem Vater sich von der Seite näherte, war sie ganz bei der Sache. Mit einer unvermittelten, heftigen Bewegung warf sie beide Arme um seinen Hals und presste Mund und Nase fest auf seine Wange. Die Augen weit geöffnet, hätte sie den Vater ewig festhalten mögen und es vielleicht auch getan, wenn er sich nicht selbst befreit hätte. Aus seiner Mine aber wusste sie nicht zu entnehmen, ob auch er sich so freute wie sie. So stand sie unschlüssig für einen Moment und ging dann voller Zweifel aus dem Zimmer.

Später, als sie in ihrem Bett lag und der Nachtwind durch das offene Fenster die Vorhänge blähte, konnte sie keinen Schlaf finden. Unruhig warf sie sich von einer Seite auf die andere, versuchte die Augen fest geschlossen zu halten, oder sie blieb ganz still liegen und starrte mit geöffneten Augen in das Dunkel: der Raum schien voller Leute, die alle das Gesicht des Vaters trugen. Die Vielzahl quälte sie, und schliesslich wusste sie auch keinen anderen Weg als aufzustehen, den Vater selbst zu suchen. Nur nach der versprochenen Ausfahrt wollte sie ihn fragen, die Antwort darauf würde ihr genügen. Barfuss, im Nachthemd schlich sie aus dem Zimmer und tastete sich durch den langen Korridor bis zur Treppe, die im Lichte der Halle lag. Noch während sie - die knarrenden Stellen, die sie wohl kannte, vermeidend -, die Stufen hinunterstieg, hörte sie Klavierspiel aus dem Musikzimmer, und sie wusste, dass der Vater alleine in der Bibliothek sass und ein Jagdbuch las. Auf Zehenspitzen ging sie hinüber und klopfte an. Furchtsam steckte sie den Kopf durch die Tür.

"Du? Was willst du denn noch?"

"Papa, darf ich dich etwas fragen?",

und als er nichts antwortete:

"Wann fahren wir aus?"

"Aus? - Ach so! Bald, bald - aber jetzt geh schlafen."

Jescha aber wollte Gewissheit haben, denn die Antwort des Vaters hatte nicht besonders überzeugend geklungen; deshalb fragte sie noch einmal:

"Bestimmt? Ganz bestimmt?"

"Ganz bestimmt!" bestätigte der Vater - "aber jetzt ist es genug. Mach, dass du ins Bett kommst."

Mehr wollte Jescha auch nicht wissen. Mit einem fröhlichen, zutraulichen Lächeln sagte sie schnell noch:

"Dankeschön, Papa, und gute Nacht", und lief so eilig zurück in ihr Zimmer, dass sie fast noch über das lange Nachthemd gefallen wäre. Als sie wieder in ihrem Bette lag, klopfte ihr Herz so laut wie der

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Gong der grossen Uhr in der Halle, und niemand hätte zu sagen gewusst, ob dies von der Freude kam oder von der Hast, mit welcher sie die Treppe erklommen hatte.

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Mancher Tag verging und an keinem vergass Jescha, den Vater zu erinnern, bis er sie schliesslich an einem sonnigen Vormittag rufen liess. Der Wagen stand schon vor der Tür, als Jescha kam, und der Vater war gerade dabei, den grossen Feldstecher auf den Sitz zu legen. Hastig kletterte sie auf ihren Platz und verging fast vor Ungeduld, als der Vater noch einmal ins Haus zurückging. Schliesslich fuhren sie, und bald lag das Haus weit hinter ihnen.

Der Wagen holperte die ausgefahrenen Wege entlang. Jescha erschien heute alles so anders, so neu, als führe sie durch ein fremdes Land: waren die Felder nicht weiter als sonst und die Wälder nicht tiefer und dunkler, waren die Wege nicht weniger staubig, die Sonne nicht heller und die ihnen begegnenden Arbeiter nicht ehrerbietiger als sonst? Jeschas Augen strahlten, als läge ein langersehntes Märchenland vor ihr ausgebreitet. Immer, wenn der Vater den Wagen hielt, um mit den Feldarbeitern zu sprechen, glaubte sie den Widerschein ihres eigenen Glücks auf den

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zerfurchten Gesichtern dieser fremden Leute zu erblicken. Einmal war der Vater bei einer grösseren Gruppe sogar ausgestiegen: geschwind war sie ihm gefolgt und hatte ihren blossen Arm in den seinen geschoben. Strahlend und glücklich an seine Seite gelehnt, war sie masslos stolz auf ihn gewesen.

Für sie hätte die Fahrt kein Ende zu nehmen brauchen. Manchmal beugte sich der Vater zu ihr und erklärte die Bebauung der Felder, zeigte ihr, wo Unkraut und Wetter gewütet hatten, wo Maulwürfe und Kaninchen noch immer die Felder verwüsteten, oder wo das Korn besonders gut stand. Aber sie verstand nur selten den Sinn seiner Worte, hörte nur seine Stimme und nickte hin und wieder, als hätte sie längst dies alles und noch viel mehr verstanden.

Ihre ganze überströmende Seligkeit aber sollte bald darauf jäh verlöschen und für immer in tiefes Dunkel getaucht werden.

Als sie sich wieder einem grossen Walde näherten, verhielt der Vater die Pferde und deutete hinüber zum Waldrand, von wo ein hoher Anstand aus hellem Holze, zwischen den Bäumen halb verborgen, herüberschimmerte. Er zeigte ihr, wo die Rehe des Morgens zu äsen pflegten und wo Meister Reineke seinen Bau hatte. Er war so versunken in seine neue Aufgabe, dass er nicht bemerkte, wie Jescha sich von der gepolsterten Bank erhob, um an ihm vorbei besser sehen zu können. Noch während er mit abgewendetem Gesicht sprach, hob er leicht die Zügel und die Pferde zogen plötzlich an. Jescha, die keine Zeit gefunden, sich auf diese unvermittelte Bewegung vorzubereiten, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem erschreckten Schrei über die niedrige Seitenwand. Im Fallen streifte sie das grosse, rollende Rad: mit geschlossenen Augen blieb Jescha rücklings auf dem Wege liegen. Sie wollte sich erheben, denn ausser einem Brennen im rechten Arm verspürte sie keinen Schmerz, doch der Schreck schien ihr die Glieder gelähmt zu haben. Sie hörte, wie der Vater ihren Namen rief, so laut und besorgt, als befürchte er das Schlimmste und als könne er durch das Rufen allein den Sturz ungeschehen machen:

"Jescha, Jescha, ist dir was geschehen? Tut es dir irgendwo weh? Antworte doch, Kind, um Gottes willen."

Er kniete neben ihr und strich ihr behutsam über das bleiche Gesicht. Da war es Jescha, als hätte sich ihre kleine Sehnsucht erfüllt: Die Angst des Vaters breitete sich um sie wie ein wohliger Mantel, und in seiner Not um sie fühlte sie sich geborgen. Sie schlug die Augen auf und sah lächelnd in sein verstörtes Gesicht. Selbst unter Schmerzen hätte sie jetzt noch ein glückliches Lächels gefunden. Langsam schüttelte sie den Kopf - und es war mehr als nur eine verneinende Antwort auf seine Frage.

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"Kannst du aufstehen?" Gehorsam zog Jescha sich an seiner Hand empor und tat ein paar Schritte: ihr fehlte wirklich nichts, nur am Arm - dort wo sie das leichte Brennen verspürte - war ein wenig Haut abgeschürft. Sie lachte den Vater an und sprang einige Male ungelenk und mutwillig, an seinem Arm sich haltend, in die Höhe, wie um zu zeigen, dass ihr auch wirklich nichts geschehen sei. Doch der Vater erwiderte ihre Fröhlichkeit nicht. Sein Gesicht blieb ernst, und verständnislos blickte Jescha ihn an: warum freute er sich nicht mit ihr - es war doch alles gut, nun, da er wusste, dass sie keinen Schaden genommen hatte. Und plötzlich sah sie, dass er zornig war. Sie wurde unsicher, weil sie nicht verstand, wieso sich seine Sorge um sie so schnell in Zorn verwandeln konnte. Leise fragte sie, als hoffe sie auf eine Täuschung: "Papa, bist du böse?" "Ja! Konntest du nicht aufpassen?" und eine Flut von Vorwürfen und Scheltworten brach über sie herein. Doch seltsam: die kalten, harten Worte des Vorwurfs schmerzten sie kaum, fast hörte sie sie nicht, denn schlimmer noch war jenes Dunkel, in dem ihr kleines unschuldiges Glück verlosch. Jescha war es, als läge plötzlich die eben noch so heitere Landschaft in tiefstem Schatten: wo eben noch ihre Sonne war, hing eine schwere, schwarze Wolke, und alles Licht verschwand wie Goldstaub vor einem Winde. Die Dinge schienen zu versinken; alles wurde mit einem Male so fremd und leer, als sei es gar nicht wirklich. Sie ging in einem grossen Garten und alle Blumen waren abgemäht - sie stand an einem Bache, der keine Brücke hatte, und doch blieb sie ganz unberührt. Ihr war, als hätte eine andere, fremde Jescha einen grossen Schmerz erlitten, und sie wusste nicht, was es war.

Wie hätte sie auch wissen können, dass ihrer unschuldsvollen Liebe die Hoffnung gestorben war, und dass die Liebe ohne Hoffnung flieht wie die Seele einen toten Körper - und fremd wird allem, was da lebt. Und Jescha war die Liebe selbst. Sie war so weit entfernt, dass sie es nicht bemerkte, wie sie den Wagen bestieg, den der Vater wieder nach Hause lenkte. Apathisch hockte sie auf ihrem Platz, starrte mit grossen Augen auf die hölzerne Fusswand und meinte, sie sei gestorben.

Vor dem Hause angekommen, half ihr irgend jemand aus dem Wagen. Sie spürte nur einen festen Griff, der sie dann wieder liess. Sie stieg die breite Treppe hinauf und irrte mit leerem Blick durch das Haus. Von Zimmer zu Zimmer ging sie, als suche sie etwas, an das sie sich nicht erinnern konnte. Sie wurde angesprochen, doch hob sie nur das ernste Gesicht verständnislos und ging weiter ihren ziellosen Weg. In ihrer kindlichen Einfalt

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meinte sie, der eigene Geist zu sein, der unstet wandern müsse, bis der Körper seine Ruhe gefunden habe.

Auch in die Wirtschaftsgebäude kam sie und blieb sehr lange bei den Pferden stehen. Ein Kutscher trat neben sie und sprach mit ihr: wahrscheinlich wollte er Jescha etwas erklären. Jescha sah und hörte ihn nicht. Erst als sie sich zum Gehen wandte, stiess sie gegen ihn und sah auf: "Siehst du mich?" fragte sie ihn, und ihr war, als käme die eigene Stimme aus weiter Entfernung.

"Jawohl, gnädiges Fräulein", antwortete er und trat verlegen zur Seite, denn er hielt ihre Frage für einen Vorwurf, weil er doch im Wege gestanden. Jescha hörte seine Antwort nicht. "Sag", flüsterte sie, und die Stimme schien ihr fast zu versagen, "wann werde ich begraben?" Der Mann sah sie nur entsetzt an, weil sie bei ihrer Frage so unheimliche, fremde Augen hatte und weder Scherz noch kindliche Natürlichkeit das bleiche Gesichtchen belebten. Dann stammelte er etwas vor sich hin und verschwand zwischen den Pferderücken in der Tiefe des Stalles.

***

Der Sommer war zur Neige gegangen und die ersten Herbstwinde trieben buntes Laub über den Boden. Still und fast unbemerkt war der Herbst ins Land gekommen. Im Herrenhaus war es ruhig geworden, denn draussen gab es viel zu tun. Nur oben im ersten Stock stand ein hohlwangiges Mädchen am Fenster und blickte verloren hinüber in den zerzausten Park. Die tief in de Höhlen liegenden dunklen Augen und das strähnige Haar erzählten von vielen fiebrigen Tagen und Nächten.

Jescha musste sich auf die Fensterbank stützen, dann sich gar einen Stuhl geben lassen, weil die schwachen Beine sie nicht zu tragen vermochten. Seit zwei Tagen durfte sie hin und wieder für kurze Zeit das Bett verlassen, und Alma, die Köchin, wachte streng, dass sie die Zeiten einhielt. Sie war die einzige, in deren Nähe Jescha sich geborgen fühlte - die anderen waren ihr alle fremd geblieben seit jenem Tag, an den sie kaum noch eine Erinnerung hatte.

Eben trat Alma ein mit einer Schale Obst, die sie fürsorglich auf das Nachtschränkchen stellte. Dann schüttelte sie das Bett auf, strich das Laken glatt und bettete Jescha, die sich willig vom Fenster rufen liess, in die weichen Kissen. Jescha sah noch immer den Park vor sich, der - heller als im Sommer - sie zu einem Spaziergang verlockte. Es war ihr erster Wunsch seit langem, und sie hütete sich, ihn auszusprechen.

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Die Tage vergingen, und Jescha kam langsam wieder zu Kräften. Immer länger sass sie am Fenster und sah hinüber zu den Bäumen, die nur noch wenige Blätter trugen. Mit ihren Kräften war auch ihr Wunsch gewachsen - oder war es der Wunsch, der ihr die Kräfte verlieh? Eines Mittags, als tiefe Stille im Hause herrschte, zog sie ein Mäntelchen über und feste Schuhe, stieg leise die Treppe hinunter und verschwand mit hastigen, unsicheren Schritten zwischen den Bäumen. Es dauerte lange, bis sie zurückkam. Ihre Schritte raschelten im dürren Laub, so sehr sie sich auch bemühte, vorsichtig aufzutreten. Ängslich sah sie zum Haus hinüber. Sie fröstelte dabei ein wenig, doch über ihren Wangen lag ein zartes Rot. Unbemerkt gelangte sie wieder in ihr Zimmer. Ihre Knie zitterten vor Schwäche, als sie die Kleider ablegte und in ihr Bett schlüpfte. Eine seltsame Veränderung schien mit ihr vorgegangen: nicht nur dass ihre Wangen sich ganz leicht gerötet hatten - auch ihr Blick schien weniger starr zu sein als in den letzten Wochen.

Dann schien sie müde zu werden, und bald darauf schlief sie auch ein. Als Alma ihr das Essen brachte, war jener Hauch verschwunden, und kühl und blass lag sie in ihren Kissen.

Am nächsten Tage war sie zu schwach, doch am übernächsten verschwand sie wieder um die Mittagszeit im Parke. Ein Knecht nur hatte sie gesehen, doch wusste der nichts um die Heimlichkeit ihres Weges. Dieses Mal blieb sie viel länger aus, und als sie endlich wieder zwischen den Bäumen erschien, stand sie einen Augenblick ratlos, denn eine dicke Schicht Schlick hatte sich um ihre Schuhe gelegt. Sie lief hinüber zur Freitreppe, streifte schnell die schmutzigen Schuhe ab und warf sie hinter einen grossen Rhododendron-Strauch. Auf Strümpfen schlich sie ins Haus. Ihre Bewegungen waren lebhafter, aber auch ängslicher als das letztemal, und nur langsam, als sie wieder in ihrem Bett lag, kam Ruhe über sie.

Kein Tag verging, an dem sie nun nicht ihren heimlichen Ausflug wagte, und jedesmal bei ihrer Rückkehr schien eine winzige, zärtlich gehegte Flamme in ihren Augen zu glimmen. Es war, als hätte sie sich an einem wohltuenden Feuer erwärmt und trüge nun einen Widerschein, einen schwachen Abglanz davon in die trostlose Atmosphäre ihres Krankenzimmers.

Sie ass noch immer wenig, und so fiel es nicht auf, dass sie vom Mittagessen ein Stück Brot oder Kuchen verbarg, welches sie dann hervorholte, ehe sie wegging. In der Vorsicht und dem Bedacht, mit denen sie solches tat, lag mehr als nur die Furcht, entdeckt zu werden.

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Jeschas mittäglicher Weg fiel niemandem auf bis zu jenem Tag, an dem sie nicht mehr zurückkehrte. An einem späten Nachmittag, als Alma mit einer Tasse Tee ins Zimmer kam, fand sie das Bettchen leer. Sie glaubte erst, Jescha habe das Zimmer nur für einen Moment verlassen, und wartete. Inzwischen richtete sie das Bett und räumte noch ein wenig auf. Als Jescha dann noch nicht zurückgekommen war, machte sie sich auf die Suche. Bald hatte sie das Haus alarmiert. Man rief in jeden Raum, durchsuchte die entlegensten Ecken: Jescha blieb verschwunden. Auch die Suche im Park, an der sich alle beteiligten, blieb erfolglos.

Erst, als sich die Abenddämmerung senkte, fand man sie. Im seichten Wasser, am Rande des Teiches, lag sie, und um sie herum schwammen kleine Brocken Brot. Drüben auf dem jenseitigen Ufer standen die Schwäne, als wollten sie das Wasser mit der Toten nicht teilen.

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